Technik vor Pädagogik: Eine Meinung zu Tracking und Kontrolle

Im digitalen Raum ist die Verlockung groß, vieles zu kontrollieren und zu tracken. Es ist ganz leicht – jede Handlung wird protokolliert, jeder Klick hat einen Verursacher. Logfiles schreiben mit, jede Bewegung ist möglicherweise überwachbar. Filtersoftware blockt unangenehme oder unpassende Nachrichten, und dass sie dabei manchmal auch zu viel blockt oder umgehbar ist, wird nicht als Fehler im System, sondern als Fehler der Software betrachtet. Muss man einfach besser programmieren. Doch der digitale Raum wird immer mehr auch unser Lebensraum – ein total überwachter Lebensraum ist dabei weder wünschenswert noch in einer freiheitlichen Gesellschaft den Grundwerten entsprechend. Daher macht es Sinn, ab und zu inne zu halten und sich zu überlegen, inwiefern man digitale Räume einschränken und überwachen will und in wie weit die Regel „Pädagogik vor Technik“ noch gelebt und eingesetzt wird. An dem aktuellen Beispiel (SuS beleidigen sich gegenseitig in einem scheinbar anonymen Rahmen in der BBB_Videokonferenz, da die geteilten Notizen nicht erkennen lassen, wer etwas schreibt) kann man dies gut illustrieren. Solche Beleidigungen gab es auch vorher schon: Zettel im Klassenraum und Tafelgeschmiere sind die analogen Varianten, Cybermobbing und Hate Speech im Netz die digitale „große Schwester“. Als Lehrkräfte haben wir nicht nur einen Bildungs-, sondern auch einen Erziehungsauftrag. Wir würden selbstverständlich Beleidigungen im analogen Raum, sofern von uns wahrgenommen, thematisieren. Hier nun bietet sich eine Möglichkeit, das Verhalten der Schüler*innen sogar „dokumentiert“ wahrzunehmen – ein Blick in die geteilten Noitzen während des Unterrichts ist leichter möglich als das Abfangen der Zettel, die in der hintersten Reihe durchgereicht werden. (Theoretisch kann man sogar die Datei als etherpad exportieren, auf zumpad.de oder einer anderen etherpad-Instanz dann in einem neuen, gleich benannten Pad importieren und so den gesamten Verlauf daraus erschließen und Autoren wiedererkennen) Es bietet sich also eine gute Möglichkeit, das Verhalten im Netz zu thematisieren und sich für die Grundwerte (Seid nett zueinander, seid respektvoll, nutzt Freiheiten für positive Wege usw.) einzusetzen. Im Sinne eines möglich geringen Eingriffes in die Privatsphäre kann man dabei zunächst die gesamte Klasse ansprechen, ohne die Autoren oder Verläufe des Etherpads zu betrachten. Bleibt das Verhalten bestehen, kann man die oben genannte technische Überwachungsmöglichkeit nutzen, um Schüler*innen zu identifizieren und direkt anzusprechen. Als letzte Option kann man für bestimmte Zeiträume und Klassen gezielt die Notizen, private Chats usw. blockieren, indem man die Einstellungen in BBB (Zahnrad über der Teilnehmerliste) nutzt. Wichtig erscheint mir dabei aber, das dies nicht nur im Duktus einer „Strafverfolgung“ geschieht, sondern einbegebettet wird in die Betrachtung der generellen Phänomene (Überwachung, Cybermobbing, Hate Speech, (vermeintliche) Anonymität mit Netz, ethische Regeln für die digitale Gesellschaft) und man den Schüler*innen den Raum gibt, diese Phämomene am eigenen Beispiel nachzuvollziehen und daran zu reifen. Die Tatsache, dass die Überwachung selbst in einem vermeintlich überwachungsfreien, scheinbar anonymen Raum eindringt, kann und sollte dabei unbedingt mit thematisiert werden, ebenso wie im Gespräch die Emotionen, die solche „Aufdeckungen“ vermutlich auslösen, aufgefangen werden sollten. Wenigen Schüler*innen ist bewusst, dass diese Art des Trackens auch für einige der von ihnen genutzten Messengern gilt  – auch das kann im Rahmen einer solchen „Unterrichtsstörung“ aufgegriffen werden. Würde man die Störung durch Abschalten der Funktion blocken, würde man die Lerngelegenheit verpassen. (So wie man auch viele Lerngelegenheiten über andere Funktionsweisen und Mechanismen von Technologie verpasst, weil die Nutzeroberflächen immer mehr die Hintergründe verbergen zugunsten einer möglichst einfachen Bedienung.) Die Schüler*innen können und sollen in unserem Unterricht mehr lernen, als Software zu bedienen – denn im Sinne einer digitalen Mündigkeit brauchen wir Wissen, Kompetenzen und Werte.

Die digitale Welt trackt und erfasst mehr, als wir sehen. Wer sich detailliert damit beschäftigen möchte, dem sei das Buch „Die granulare Gesellschaft“ empfohlen. Das im Unterricht in einem geschützten Rahmen erlebbar zu machen, stört unsere Bestrebungen, den „Stoff“ zu vermitteln – die Werte hingegen wird es schulen können, wenn wir die Gelegenheit nutzen. Vielleicht ergibt sich am Ende der Wunsch, das Tracking auszuschalten statt den Dienst abzuschalten – und das fände ich sogar ziemlich nachvollziehbar. Leider ist es nicht möglich. Immerhin loggt unser BBB-Server nicht dauerhaft, nach Beenden des Meetings werden alle Daten des Chats und des Pads gelöscht, eine Aufzeichnung der Video- und Audiokanäle ist zentral abgeschaltet. So halten wir so gut es geht die Waage zwischen unserem Auftrag, Schüler*innen zu beaufsichtigen, ohne sie maschinell zu überwachen, und den Freiräumen, die jede gesunde Gesellschaft braucht.

Übrigens: Ich finde es sehr sinnvoll, als Schule eine Möglichkeit zur Prüfung auf Plagiate zu haben. Dennoch: Wenn wir nun eine Software zum Auffinden von Plagiaten einsetzen, erlischt die Unschuldsvermutung nicht. Nicht alles, was technisch möglich ist, muss auch getan werden – nur da, wo es Sinn macht, sollten wir technische Möglichkeiten nutzen, uns zu helfen und zu entlasten. Ähnlich wie wir Richtlinien haben, wann wir in Logfiles von Moodle Einsicht nehmen dürfen, sollte auch für den Einsatz von Plagiatskanner-Software die Schulgemeinschaft Regeln aufstellen, die die Grundsätze der Unschuldsvermutung und der Datenminimierung mit dem Anspruch, Plagiate (auch Geschwisterplagiate) zu finden, abwägt.

Letztendlich sind wir Menschen, die in sozio-technischen Systemen mithilfe der maschinellen Elemente kommunizieren. Unser Mensch-Sein, unsere Empfindlichkeiten, unsere Emotionalität und die Flexibilität, mit der wir Situationen unterschiedlich wahrnehmen können, werden von der technischen Oberfläche manchmal verborgen, doch dass dies alles da ist – und vermessen wird – sollten wir nicht vergessen.

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