Überwachung oder Vertrauen?

HomeOffice für Arbeitnehmer*innen und Schüler*innen – das klingt notwendig und gut, aber so einfach ist das gar nicht. Während die Chefetagen bangen, ob ihre Mitarbeiter*innen auch wirklich arbeiten und sie deswegen zu zahlreichen Überwachungsmethoden greifen, fehlt vielen Schüler*innen die Strukur des Schultages samt der Überwachung, um überhaupt lernen zu können. Wie viel Überwachung ist sinnvoll?

Überwachung am Arbeitsplatz kann viele Abstufungen haben: Von ständigen Chatnachrichten und Anrufen über Leistungsvergleiche bis hin zur Spiegelung des Bildschirmes, Überwachung der Software und der Mausbewegungen und sogar Videoüberwachung des heimischen Büros – technisch ist (fast) alles möglich, so heise.de. Doch eine umfangreiche anlasslose Überwachung sei oft nicht legal, zudem führe der Druck zu mehr Stress bei den Mitarbeitern, es könne sie sogar krank machen. Dabei spreche grundsätzlich nichts gegen regelmäßige Nachrichten, Ausstausch und Feedback, allerdings müsse die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben: Wenn man in der Firma mal eben eine Spülmaschine einräumen oder einen Privatplausch führen dürfe, dann sei das im Homeoffice ebenso zu erlauben.

Einige dieser Überlegungen kann man auf Schule übertragen: Regelmäßige Nachrichten der Lehrkräfte, auf die man reagieren muss, könnten gerade leistungsschwachen Schüler*innen helfen, ihr Arbeitspensum besser einteilen zu können. Zu viele Nachrichten und zu viel Einblick ist aber nicht legal. So beriet beispielweise der Hamburger Datenschutzbeauftragte schon bald nach der Schulschließung die anfragenden Schulen, Tools wie Skype nicht zu nutzen, da sie zu viel Daten weiter gäben. Überhaupt ist die Nutzung eines Videochats im Allgemeinen nur mit einer freiwilligen Einwilligung möglich – niemand sollte gezwungen sein, seine Privaträume vorzeigen zu müssen. Unter Pandemiebedingungen ist dies allerdings, wie manch andere Datenschutzvorschrift, locker gesehen worden, und das möglicherweise zu Recht: Denn der Bildungs- und Erziehungsauftrag setzt vorraus, dass man eine persönliche Bindung zu Schüler*innen aufbaut. Fehlt der körperliche Kontakt, können Videokonferenzen weitaus mehr Bindungsarbeit ermöglichen als etwa ein Mailverkehr. Eine sinnvolle Gesetzesgrundlage fehlt hier allerdings noch.

Heiß diskutiert wird auch die Frage, ob und wie Leistungsnachweise im Fernunterricht erbracht werden können. Traditionell werden Klausuren und Klassenarbeiten unter massiver Aufsicht geschrieben, nur einige Fernunis haben sich schon vor Corona mit Onlineprüfungen beschäftigt. Im Bildungsbereich hat sich für die Umsetzung dieser Kontrolle ein eigener Bereich gebildet: das sogenannte Proktoring. Dies beinhaltet eine umfassende Überwachung des Prüflings während der Prüfung. Teilweise ist diese Überwachung so umfangreich, dass Studierende dagegen Beschwerde eingelegt haben. Beispielsweise wird die Kontrolle über den Rechner übernommen, so dass keine Zwischenablage (Copy-and-Paste), kein Öffnen anderer Fenster oder Dateien außer dem Prüfungsfenster, kein Rechtsklick und ähnliches möglich ist. Die Software greift dafür tief in die Strukturen des Betriebsystems ein. Zusätzlich wird der Student oder die Studentin mittels Videoüberwachung gefilmt, das Video kann dann manuell oder mittels KI ausgewertet werden – oft auch durch Firmen in den USA, die die Daten möglicherweise auch an andere Parteien wie etwa die NSA weiter geben. Es darf niemand sonst im Raum sein, man darf nach nichts greifen, man kann nicht auf Klo gehen – und wenn das Internet dann doch kurz abbricht, kann es sein, dass die Prüfung vorbei ist und man sie wiederholen muss.
Befürworter solcher Prüfungen sagen, dass es fair sei, ähnliche Bedingungen wie bei einer Präsenzprüfung zu erzeugen und dass es den Teilnehmer*innen ja zugute käme: sie müssen sich nur richtig verhalten, dann wird jeder Verdacht, sie hätten geschummelt, zweifelsfrei ausradiert. Zudem wirke sich die vertraute Umgebung positiv auf das Wohlbefinden der Prüflinge aus.
Gegner des Proktorings sehen aber einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Privatphäre und einen starken Druck auf die Prüflinge, da man Angst hätte, eine falsche Bewegung zu machen. Zudem seien die Bedingungen nicht mehr gleich, da z.B. nicht bei jedem die gleiche technische Ausstattung vorläge, ebensowenig wie die gleiche Medienkompetenz. Gerade der Einsatz der KI zur Überwachung berge auch Gefahren, wie etwa Fehlerkennungen im Algorithmus bei Menschen mit dunkler Hautfarbe.

Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, die man statt des Proktorings nutzen könnte: Einen Videolivestream, bei dem die Studierenden zuhause schreiben und der oder die Prüfer „live“ auf die gestreamten Kamerabilder schauen, ohne dass die Aufnahme gespeichert wird, eine mündliche Prüfung oder das anfertigen einer längeren Haus- oder Projektarbeit, im Schulbetrieb nennen wir das „Klausurersatzleistung“. Die darf man aber nur einmal im Jahr nutzen, obwohl man zweifelsfrei als Lehrperson weiß, ob jemand ein Projekt selbst umgesetzt hat, wenn man diese Person über einen längeren Zeitraum bei der Projekterstellung begleitet hat. Allerdings sind solche „OpenBook“-Leistungsnachweise deutlich aufwendiger – sowohl im Unterricht zuvor aus auch in der Korrektur, denn man kann nicht mehr nach einfachem, auswendig gelernten Wissen fragen.

Eine engmaschige Betreeung ist nicht nur aufwendig, sie beinhaltet auch wieder eine Form von Überwachung – denn der Lehrkraft muss dann die Gradwanderung zwischen „zu oft nachfragen“ und „zu viel Druck“ auf der einen Seite und „zu wenig Betreuung“ und „zu wenig Feedback“ auf der anderen Seite gelingen. Jede Stunde ein Livestream mit allen Schülern, damit ich sehen kann, ob sie wirklich arbeiten? Oder täglich ein Blick in Logdaten meines Kurses? Reicht es zu sehen, wer die Aufgaben fristgerecht abgibt, oder ist es dann nicht eigentlich schon zu spät und das (faule) Kind in den Brunnen gefallen? Sollte ich die Texte durch eine Plagiatsprüfung jagen oder vertraue ich, wie bei handschfriftlichen Texten, auf mein Bauchgefühl?

Meine persönliche Meinung: Nicht alle Schüler*innen sind gleich. Von einer Total-Überwachung ist auf jeden Fall abzusehen – erstens ist sie unrealistisch und gelingt auch nicht im Präsenzunterricht, zweitens macht der Druck krank und drittens ist es moralisch ein zu starker Eingriff in die Privatphäre. Als Lehrkraft suche ich mir stattdessen die Schüler*innen heraus, die ich für eine Weile intensiver beobachten will – und das kann ich durch Nachrichten, Videocalls (auch mal ohne Video), Logdaten und die abgegeben Aufgaben. Leistungsfähigkeit kann ich dabei „nebenbei“ gut diagnostizieren – wenn es nach mir gänge, könnten wir zentrale, zeitgleiche Prüfungen ganz abschaffen, sie sind weder fair noch prüfen sie die tatsächlichen Kompetenzen, die man im Leben später braucht. So lange es sie aber noch gibt, vertraue ich auf mich, meine Schüler*innen und schlimmstenfalls einen Live-Stream – weitere technische Überwachung halte ich für nicht nötig. Denn, wenn man ganz ehrlich ist: Bei welcher Matheklausur hat nicht eh irgendeiner einen Taschenrechner unterm Tisch und wird nicht erwischt? Eine Onlineprüfung braucht also nicht mehr Überwachung, als eine Präsenzprüfung bieten kann.

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